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Versuch über Sokrates

Denken: vom Einzelnen das Ganze, vom Ganzen das Einzelne erschließen, ekstatisch frei assoziieren, Gegenwärtiges mit Vergangenem verbinden und ins Zukünftige vorauseilen, sich einfühlen und Gewesenes nachfühlen, begeistert die ganze traditionelle zeit- und gefühllose Logik sprengen. Aber wie solchermaßen Erschlossenes vermitteln, ohne den Eros des Entdeckens außenvor zu lassen? Möglichkeiten, ihre Chancen und Gefahren, abwägend, scheint die Form des Essays noch am angemessensten. Sie verzeiht ihrer Konzeption nach den Verzicht auf eine strenge Systematik in der Gedankenfolge, darf sich unverhohlen als Gedankenexperiment präsentieren und muss die subjektive Note dabei nicht verstecken.

„Wenn alles gut geht, wird die Zeit kommen, da man, um sich sittlich-vernünftig zu fördern lieber die Memorablien des Sokrates in die Hand nimmt als die Bibel, und wo Montaigne und Horaz als Vorläufer und Wegweiser zum Verständnis des einfachsten und unvergänglichsten Mittler-Weisen, des Sokrates, benutzt werden. Zu ihm führen die Straßen der verschiedensten philosophischen Lebensweisen zurück, welche im Grunde die Lebensweisen der verschiedenen Temperamente sind, festgestellt durch Vernunft und Gewohnheit und allesamt mit ihrer Spitze hin nach der Freude am Leben und am eigenen Selbst gerichtet; woraus man schließen möchte, daß das Eigentümlichste an Sokrates ein Anteilhaben an allen Temperamenten ist. - Vor dem Stifter des Christentums hat Sokrates die fröhliche Art des Ernstes und jene Weisheit voller Schelmenstreiche voraus, welche den besten Seelenzustand des Menschen ausmacht. Überdies hatte er den größeren Verstand.“ Mann muss schon staunen wenn man ließt, wie der bissigste unter den Philosophen, Friedrich Nietzsche, der an niemandem ein gutes Haar lies, sich hier über Sokrates äußert. Wenn er sich auch an verschiedenen anderen Stellen3 weit kritischer mit ihm auseinander setzt, so bleibt er doch zeitlebens tief fasziniert von dieser Persönlichkeit. Wer war Sokrates? Was sicherte ihm diese Sonderstellung in der Philosophiegeschichte? Wir wollen diesen Fragen auf den Grund gehen und wenn Nietzsche mit seiner durchaus suggestiven Diagnose recht hat, dass immer noch die „verschiedensten Temperamente“ in ihm den Grund ihrer Lebensweisen finden, dürfen wir hoffen dabei mehr über den Menschen im allgemeinen zu erfahren.

Sokrates kam 470 v.Chr. in Athen als Sohn eines Steinmetzes und einer Hebamme zur Welt, er starb ebenda 399 v.Chr. durch den Schierlingsbecher. Er wurde in der unruhige Zeit nach den Perserkriegen (500 - 479 v.Chr.)geboren, diente selbst im Peloponnesischen Krieg (431 – 404 v. Chr.) und erlebte die Pest in Athen(um 430 v.Chr.), der etwa ein drittel der Bevölkerung zum Opfer fiel, darunter der große Politiker und Vollender der Demokratie Perikles. Er war Vater dreier Söhne, von denen zum Zeitpunkt seines Prozesses „einer schon halb erwachsen“ und „zwei noch kleine Kinder“ waren, wie er selbst in seiner Verteidigungsrede anführte. Seine Frau Xanthippe, vom Alter der Kinder zu schließen erheblich jünger als er, muss eine rechte Kratzbürste gewesen sein. Es wird berichtet sie habe ihm schon mal vom Fenster aus einen Eimer Schmutzwasser über den Kopf geschüttet oder ihm auf öffentlichem Markt die Kleider vom Leibe gerissen, wenn sie ob seiner scheinbaren Faulheit erbost war. Man ist sich einig, dass Sokrates sehr hässlich war, stumpfnäßig und mit erheblichem Bauch, zudem sei er immer barfuß und in schäbiger Kleidung aufgetreten. Er sorgte sich nichtsdestoweniger um seine körperliche Fitness, eifrig Gymnastik habe er betrieben und auch getanzt, allerdings mehr der Gesundheit wegen. Vom Vater erlernte er das Handwerk des Steinmetzes, übte aber praktisch, wie er selber sagte, das der Mutter aus: Die Hebammenkunst, die Mäeutik.

„Es ist schon ein großer und nöthiger Beweis der Klugheit oder Einsicht, zu wissen, was man vernünftigerweise fragen solle. Denn wenn die Frage an sich ungereimt ist und unnötige Ant-worten verlangt, so hat sie außer der Beschämung dessen, der sie aufwirft, bisweilen noch den Nachtheil, den unbehutsamen Anhörer derselben zu ungereimten Antworten zu verleiten und den belachenswerthen Anblick zu geben, daß einer (wie die Alten sagen) den Bock melkt, der andere ein Sieb unterhält.“ Wie dieser kleine Absatz aus der „Kritik der reinen Vernunft“ vermuten lässt, war auch Immanuel Kant damit vertraut, auf eine ungewöhnliche Frage ins Stottern zu kommen und stellte daher vorsichtshalber gleich eine eigene Wissenschaft vom Fragen auf, um damit alle falschen Frager gleich ihrer Unwissenheit zu überführen. Doch genau ein solcher falscher Frager und auch noch bekennender Unwissender war Sokrates und es ist offensichtlich, dass seine Zeitgenossen nicht weniger erbost waren über unverschämte und respektlose Fragen als Kant etwa 2200 Jahre später. Sokrates trieb sich also immer auf den öffentlichen Plätzen, Märkten und Sportanlagen herum und redete, umringt von einer Schar reicher Jünglinge, mit den Leuten, wobei er sich nicht um Stand oder Gewerbe seiner Gesprächspartner kümmerte, es ging ihm nur darum, ihr Wissen, ihre Lebens- und Handlungsgrundsätze im Gespräch herauszuarbeiten und deren Falschheit zu beweisen.

Gleich einer Hebamme wollte er den Menschen bei der Geburt des Guten behilflich sein - aber zur Welt bringen mussten sie es selber. „[...] ich tue, während ich euch nachlaufe, nichts anderes, als daß ich euch, die Jüngeren wie die Älteren, dahin zu bringen suche, euch nicht zuallererst um euer leibliches Wohl und um Geld zu kümmern und nicht mit solchem Eifer wie um einen möglichst guten Zustand eurer Seele, wobei ich sage, daß nicht der Reichtum sittlich Wert hervorbringt, sondern der sittliche Wert Reichtum und alle übrigen Güter, für jeden einzelnen wie für die Allgemeinheit.“ Vermutlich hielten es die Menschen damals - obwohl sich dessen nicht ausdrücklich bewusst - ähnlich wie Oskar Wildes Romanfigur Lord Henry Wotton, die, schon sehr hellsichtig, bei sich feststellt: „In the wild struggle for existence, we want to have something that endures, and so we fill our minds with rubbish and facts, in the silly hope of keeping our place.“ Der hässliche vorgeblich nichts-wissende Alte aber deckte schonungslos die Nutzlosigkeit der „facts“ auf und wies auf den „rubbish“ in den Meinugen hin. Es scheint auch wahrscheinlich das Sokrates damals bei den Bürgern Athens bereits Ähnliches feststellte, was später die Kritische Theorie um Marcuse, Adorrno und Horkheimer dem modernen Menschen aus etwas anderen Gründen nachsagen würde, nämlich „Uneigentlichkeit“ und „Selbstentfremdung“. Veranschau­lichen am heutigen Kleinbürgertum lässt sich dies an der Zaunbaummoral. Schöne nach außen hin glänzende Zaunlatten sollen das Eigene vom Fremden trennen, nach innen zeigen nur die rohen Stützbalken und dahinter im inneren Eigenen ist Unordnung, der Schein nach außen hat Vorrang vor dem Sein und dieses hat nur jenem zu dienen. Gefestigt und überspielt wird diese Diskrepanz durch die Sprachpraxis, in der die Probleme nicht zu Wort kommen und Sprechen auf der unterschwelligen Übereinkunft beruht, sich die heile Welt zu erhalten. (Diesem Phänomen hat Max Frisch in seinem Stück „Biedermann und die Brandstifter“ ein bemerkenswertes Denkmal gesetzt. Es täuschen sich dort Gottlieb Biedermann und seine Frau Babette in ihrer rein sprachlich strukturierten und wirklichkeitsentkoppelten Welt darüber hinweg, dass bereits Brandstifter das Inferno in ihrem Dachboden vorbereiten.)

In diese, auch für Athen postulierte, durch leeres Geschwätz sprachlich aufrecht erhaltene, scheinbar heile Welt tritt nun der Störfaktor Sokrates. Es muss nicht ungerechtfertigt stehenbleiben, dass Sokrates erst ermöglicht wurde durch diese Zeit und diesen Ort. Hegel würde vielleicht von einer „Manifestation des Weltgeistes“ sprechen, Heidegger noch im zwanzigsten Jahrhundert von einem Geschickten, einem „Geschick des Seins“ und auch er selbst sah sich „durch göttlichen Ratschluß der Stadt beigegeben [...] wie einem großen und edlen Pferde, das indes wegen seiner Größe etwas träge ist und von einen Sporn angestachelt werden muß“ Schon rein materiell-wirtschaftlich konnte nur aus solch einer Situation ein Sokrates hervorgehen, nämlich einer der sich nicht um seinen Unterhalt kümmert und, im Schatten der Reichen und erhalten von Freunden, trotzdem gut überlebt. Zudem brachte die These des attischen, man darf wohl zurecht sagen dekadenten Lebenswandels, mit großer Folgerichtigkeit die Antithese eines Sokrates hervor. Und der Weise war auch nicht so vermessen dies zu verkennen; er betrachtete sich nicht, wie wir oben sahen, als ganz seiner selbst mächtig - was noch weiter auszuführen sein wird -, sondern buch­stäblich als gottgegeben.

Hatte Sokrates jemand mäeutisch bearbeitet und seine ganzen falschen Meinungen herausgekitzelt, lieferte er ihm nicht etwa die Wahrheit sondern lies ihn einfach ratlos stehen. Zwei Vermutungen sollen hierzu geäußert werden. Vielleicht ahnte er etwas davon, was später die Existentialisten meinten als sie von „Angst“, wie Kierkegaart und Sartre, oder von „Grenz­sitiuationen“ wie Jaspers sprachen, nämlich, dass wahrhaft grundlegende Entscheidungen nur getroffen werden können, wenn ein hinreichendes Maß an Verzweiflung und Entscheidungsdruck vorhanden ist; nur dann kann die volle menschliche Freiheit zum Zug kommen und die Gewohnheit überschritten werden. Aber noch wahrscheinlicher scheint mir, dass dem Weisen hier tatsächlich die Worte ausgingen. Er sprach immer streng logisch, versuchte sich verständlich zu machen durch Analogien und Gleichnisse und musste doch feststellen, dass der Kern in dieser Art und Weise unerreichbar war. Von Alkibiades sind die Sätze überliefert: „Wenn jemand den Reden des Sokrates zuhören will, dann dürften sie ihm wohl zuerst ganz lächerlich erscheinen; in solche Substantive und Verben sind sie äußerlich eingehüllt wie in das Fell eines übermütigen Satyrs. Von Lasteseln spricht er und von Schmieden, Schustern und Gerbern, und er scheint immerzu dasselbe durch dasselbe auszudrücken, so daß jeder unerfahrene und unverständige Mensch seine Reden verlachen muß. Wenn aber einer sieht, wie diese Reden sich auftun, und wenn er in sie eindringt, dann wird er zunächst finden, daß sie ganz göttlich sind und mehr als anderes Standbilder der Tugend in sich enthalten und daß sie sich auf das meiste oder vielmehr auf alles erstrecken, was zu betrachten dem ziemt, der schön und gut werden will.“ Dem vergleichbar lauten die Schlusssätze des Tractatus von Wittgenstein: „6.54 Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muß die Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig. 7 Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“ Sokrates hoffte darauf dass seine Gesprächspartner inspiriert werden, ihre Un­wissenheit erkennen und so für eine tiefere, unaussprechliche Wahrheit empfänglich werden. Er kannte diese Wahrheit. In seiner Verteidigungsrede berichtet er: „Mir wird dies seit meiner Jugend zuteil: eine Stimme, die zu mir spricht, die mir, sooft sie spricht, stets von dem abrät, was ich gerade zu tun beabsichtige, und die sich niemals zuratend vernehmen lässt.“ Er erkennt sein Gewissen als „etwas Göttliches, etwas Dämonisches“ So könnte man auch Sokrates zuschreiben was Augusin im fünften Jahrhundert über die Gottessuche sagt: „Gehe nicht nach draußen, kehre in dich selbst ein; im Inneren des Menschen wohnt die Wahrheit.“ sowie Meister Eckart im vierzehnten: „Der Mensch trägt alle Wahrheit wesentlich in sich“ - was allerdings in deutlich mystischerem Kontext stand. Der heutige Leser wird, und ist er auch noch so unmusikalisch, die religiösen, christlich anmutenden Obertöne der „Aplologie“ unmöglich überhören können. Doch auch mit östlichen mystischen Vorstellungen findet sich eine große Übereinstimmung, wie am vom Buddhismus inspirierten Gedicht „Weg nach innen“ von Hermann Hesse deutlich wird:

„Wer den Weg nach innen fand,
Wer in glühendem Sichversenken
Je der Weisheit Kern geahnt,
Daß sein Sinn sich Gott und Welt
Nur als Bild und Gleichnis wähle:
Ihm wird jedes Tun und Denken
Zwiegespräch mit seiner eignen Seele,
Welche Welt und Gott enthält.“(von 1918)

Und tatsächlich sind von Sokrates mehrere Fälle tiefer Versunkenheit überliefert. Alikibiades berichtet von ihm während des Krieges: „Über etwas nachdenkend stand er vom Morgen an auf derselben Stelle und bedachte es, und da es ihm nicht voranging, ließ er nicht ab, sondern blieb nachforschend stehen. Es wurde Mittag, und die Leute wurden aufmerksam, wunderten sich und sagten einer zu dem anderen, Sokrates stehe vom Morgen an da und sinne über etwas nach. Schließlich trugen einige Jonier, als es Abend war und nachdem sie gegessen hatten, ihre Schlaf-decken hinaus – denn es war damals Sommer -, teils um im Kühlen zu schlafen, teils um ihn zu beobachten, ob er wohl auch die Nacht über stehen bleiben werde. Er aber blieb stehen, bis die Morgenröte kam und die Sonne aufging. Daraufhin entfernte er sich und betete im Weggehen zur Sonne.“ Und auch auf dem Weg zum Gastmahl blieb er zurück und wurde von einem Sklaven beim Nachbarhaus gefunden - tief versunken; der Ausgeschickte erzählt: „[...] wenn ich ihn anrufe, rührt er sich nicht.“

Sokrates der große Weisheitslehrer; scheinbar voll und ganz der Logik verfallen, sah er doch deutlich ihre Grenzen und bediente sich ihrer eigentlich nur um Falsches ad absurdum zu führen. Er konnte noch staunen über Welt und Mensch und begriff für sich das beide nicht den Grund in sich selbst haben können. So konnte er durchaus rational vertretbar an die Götter glauben und in seiner Verteidigungsrede behaupten: „Ich glaube an sie, ihr Männer von Athen, wie keiner meiner Ankläger und ich stelle es dem Gotte anheim, meinen Fall so zu entscheiden, wie es für mich und für euch das Beste ist.“ Trotzdem haftete ihm nichts vom trockenen Logiker oder verklemmten Scholastiker an; er hatte tatsächlich, wir erinnern uns an Nietzsche, „die fröhliche Art des Ernstes und jene Weisheit voller Schelmenstreiche“. Vollends zeigt sich seine durchdachte Gläubigkeit in der fast heiteren Aufnahme des Schuldspruchs: „Das hat wohl so kommen sollen, ich glaube, daß es gut so ist.“ und im weithin bekannten letzten Satz seiner Verteidigungsrede: „Doch jetzt ist's Zeit fortzugehen, für mich, um zu sterben, für euch, um zu leben. Wer von uns beiden dem besseren Los entgegengeht – das weiß nur Gott.“

Noch eine kleine Anmerkung zum Schluss: Beschäftigt man sich etwas mit Sokrates, so hat man schnell den Eindruck, die ganze Philosophiegeschichte sei nicht „a footnote to plato“, wie Whitehead proklamierte, sondern eher 'a footnote to Sokrates'. Doch halt! - Sokrates hat ja nichts geschrieben – also auch keine Gelegenheit Fußnoten anzufügen. Und es war für ihn nur konsequent nichts zu aufzuschreiben; er war Ethiker, dem Ethiker geht’s um's richtige Handeln und dessen Grundsätze müssen lebendig in den Menschen sein und nicht verstauben in irgendwelchen Büchern.

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